Auszüge

INTERVIEW mit der sozialpsychiatrischen Betreuerin Silvia Vontobel (Auszug)

tomas bächli: Wie nimmst Du die Person Erik Satie wahr?
silvia vontobel: Ich hatte schon immer den Eindruck, dass Satie wechselnde Zustände hatte, aber ich habe sie nicht verstanden. Ich habe kein Gerüst zur Verfügung, denn ich bin keine Psychiaterin; bei der Arbeit ist das zugleich meine Stärke und meine Schwäche. Ich habe kein Theoriekonzept, in das ich Satie einfüllen und sehen kann, wo stimmt’s und wo nicht.

Erik Satie passt in kein Theoriekonzept.
Ich habe auch gar keins!

Gerade deshalb habe ich dich ja um ein Gespräch zu Satie gebeten. Du siehst bei ihm einen Wechsel der Stimmlage.
Ich frage mich: Wie kann einer, der so spinnt, wie es Satie gelegentlich tut, wieder der werden, den wir so lieben – in sich gekehrt, spannend und auch einzigartig in seiner Kombination von Gedankengängen? Es gibt bei ihm zum Beispiel diesen Hang zum Ornamentalen, seine Stempel und das Briefpapier, das kenne ich von Schizophrenen wie Adolf Wölfli. Es soll etwas ausfüllen, was bedrohlich leer ist, etwas, das nicht mehr da ist, so nehmen wir an. Aber wenn Satie zum Beispiel seinem Bruder schreibt, dann ist er ganz klar und freundschaftlich, mit einem Hang, sich auch über sich selber zu mokieren. Wie konnte er von einem Zustand in den anderen wechseln? Der Furor, mit dem er sich wegen irgendeinem Detail mit anderen Leuten verkracht. Und dann ist er wieder so unterwürfig! Da weiß man nie, ob es ironisch gemeint ist.

Das ist ja immer die Frage. Ich selbst bin überzeugt, dass alles ernst gemeint ist.
Das sagt er ja auch selbst: »Je ne suis pas drôle.«

Ja, warum soll ich lustig sein! Ich setze meine Musik und meine Worte einfach so in die Welt.
Oder bietet er uns das einfach an, um sich nachher wieder zu entziehen? Diese Rolle, wo wir alle denken: Wow, ist der witzig, hat der Kombinationsgabe! Und dann ist er wieder weg. Wenn’s ihm ernst ist, ist er wieder weg. Denn wenn’s ihm ernst wäre, würde er ja wirklich spinnen!

 

MUSIQUE D’AMEUBLEMENT (Auszug)

Schon der reine Wortklang macht uns neugierig, drei Mal wird der Konsonant m wiederholt. Musique d‘ameublement ist zu einem Markenzeichen Saties geworden. Musik, die einen Raum möbliert – das beflügelt die Phantasie. Möbelmusik ist eine von Saties seltsamsten Erfindungen. Der Begriff wird ganz unterschiedlich interpretiert, auch von ihm selbst. Es gibt nur fünf Kompositionen, die Satie als musique d’ameublement bezeichnet hat. Sie tragen Titel wie Tapisserie en fer forgé oder Carrelage phonique. Sie bestehen aus ein paar Takten Musik, die ad infinitum wiederholt werden. Neben diesen Kompositionen gibt es einen Text, ein Exposé, in dem Satie die Grundgedanken der musique d’ameublement darlegt. Satie hat ihn Jean Cocteau geschickt. Eine Reaktion von Cocteau ist nicht überliefert. Der Text beginnt folgendermaßen:
»Musique d’ameublement ist durch und durch industriell.«
»Wir wollen eine Musik einführen, die die natürlichen Bedürfnisse befriedigt. Die Kunst gehört nicht dazu.«
»Die Musique d’ameublement ersetzt auf vorteilhafte Weise die Märsche, die Polkas, Tangos Gavotten etc.«
Diese Sätze schrieb Satie 1918. Ein paar Jahre nahmen die Rundfunkanstalten ihren Betrieb auf – der Beginn der Dauerbeschallung des Menschen im 20. Jahrhundert. Hatte Satie die Folgen dieser Entwicklung vorausgesehen? Im seinem Exposé beschreibt er die latent totalitären Züge einer Musikberieselung, die in alle Lebensbereiche des Menschen eindringt. Das Manuskript liest sich wie ein Werbetext:
»Betreten Sie kein Haus, das nicht Musique d’ameublement verwendet.«
»Wer keine Musique d‘ameublement gehört hat, weiß nicht, was Glück bedeutet.«
»Schlafen Sie nicht ein, ohne ein Stück der Musique d’ameublement gehört zu haben, oder Sie werden schlecht schlafen.«
Wir vermuten hier eine subversive Ironie. Aber man kann diese Sätze auch ganz affirmativ lesen. Die Firma Muzak, die seit 1934 »elevator music« produziert und mit ihrer kommerziellen Hintergrundsmusik zum Synonym für Musikberieselung geworden ist, hat an ihrem europäischen Firmenhauptsitz eine Statue von Erik Satie aufgestellt. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass Satie das missbilligt hätte.