Sports et Divertissements (1914)

Bei Sports et divertissements handelt es sich um eine Sammlung von zwanzig kurzen Klavierstücken, die Bezug auf Zeichnungen des Malers Charles Martin nehmen. Die Stücke wurden zusammen mit den Bildern veröffentlicht. Wie üblich schreibt Satie Kommentare und kurze Geschichten in die Noten.

Aus dieser Sammlung habe ich fünf Stücke ausgewählt. Wenn sie den Text lesen, können sie sich gleichzeitig die Audiofiles zur Textstelle anhören  Demo (Marseillaise-Zitat aus Les courses). Auch die Videos erklären die Musik.

La chasseLes quatres coinsLe flirtLes coursesLa balançoire


La chasse

In Sports et divertissements notiert Satie keine Taktstriche, vielleicht weil der Taktanfang jeweils ohnehin klar ist. La chasse ist ein Vierertakt in punktierten Vierteln als Puls. Das wirkt penetrant, wie bei einem Abzählvers. Das Stück besteht aus acht Klangblöcken von jeweils vier Vierteln Dauer plus einem Schlussakkord. Ein traditionelles Modell der Entwicklung besteht darin, mit einem einfachen Motiv zu beginnen, wie etwa in Beethovens 5. Sinfonie, und es dann im Verlauf der Komposition immer komplexer zu variieren. Am Schluss wird die Musik wieder einfacher, denn das Ende soll klar und deutlich sein.

In La chasse ist es genau umgekehrt. Die Anfangsphrase wird vereinfacht und wird in jedem Klangblock banaler. Der erste Klangblock besteht aus vier Akkorden  01 .  Der zweite besteht aus zwei Akkorden, die sich abwechseln  02 . Der dritte Block besteht aus einem einzigen Akkord,  der in einer Auf-und Abwärtsbewegung gebrochen wird  03 . Das gleiche gilt für den vierten Klangblock, nur ist der Akkord hier noch einfacher  04 . Der fünfte Block besteht aus einer leeren Quinte, mit einer winzigen Abweichung in der Mitte  05 . Im sechsten Block fehlt auch diese Variante. Wir hören vier Mal genau dasselbe  06 . Im siebten Block gerät die Harmonik allmählich wieder in Bewegung  07 . Im achten Block rast diese harmonische Bewegung dem Ende entgegen  08 . Die Dynamik steht in einem Kontrapunkt zum harmonischen Geschehen: Zwischen dem fünften und sechsten Block, wo die Musik am einfachsten ist, kippt sie unmittelbar vom Fortissimo ins Pianissimo. Der jeweils letzte Akkord eines Klangblocks hat mit dem Anfangsakkord des folgenden mindestens eine Tonhöhe gemein. Auf diese Weise sind die Teile miteinander locker verbunden, ohne dass der Eindruck eines zwingenden Verlaufs entsteht. Der letzte Fortissimo-Akzent, eine leere Quinte, wird wiederholt. Darin kann man eine Bestätigung sehen. Allerdings wirkt dieses verdoppelte Ende auf mich seltsam, es ist, als ob jemand seine Schlussbemerkung wiederholt, weil er nicht sicher ist, ob man sie richtig verstanden hat  09 .


Les quatres coins

In Les quatres coins hat Satie die Wagnersche Leitmotivtechnik so radikalisiert, dass die Motive der handelnden Akteure nur noch aus jeweils einer einzigen Note bestehen. Les quatres coins ist ein französisches Gesellschaftsspiel, aus dem Satie eine Katz-und-Maus-Geschichte macht. Die vier Mäuse in den vier Ecken werden von den weißen Tasten auf der Klaviatur dargestellt: e, f, h, c. Sie umrahmen die Zweier- und Dreiergruppen der schwarzen Tasten. Die Katze, das d, ist zwischen zwei schwarzen Tasten eingequetscht, entsprechend missmutig liegt sie auf der Lauer. Die Mäuse e, f, h, c springen durch alle Oktavlagen, bilden Gruppen und hübsche Figuren (z.B. Vorhaltsketten) und fangen an, die Katze zu ärgern – keine gute Idee. In seinem letzten Kommentar kehrt Satie wieder zum Gesellschaftsspiel zurück. »Le chat est placé«, die Katze sitzt auf ihrem Platz. Aus der Musik geht hervor, dass sie eine Maus gefressen hat.

die vier mäuse: Oskar, c + Franziska, h + David, f + Grete, e
die katze: Tomas, d


Le flirt

»Sie sagen einander schöne Sachen, moderne Sachen«, heißt es in den Noten  10 . Satie kombiniert einen Ragtime-Rhythmus  11 in der rechten Hand mit einem Alberti-Bass in der linken  12 , der Standardbegleitung von Sonatinen für den Unterricht. Ragtime war damals chic – Satie verwendet hier den Rhythmus aus dem Intro von Scott Joplins Entertainer  13 , der Alberti-Bass dagegen war der Inbegriff von Biederkeit.

Und so stelle ich mir diesen flirtenden Mann vor: oben ein elegantes Jackett, an den Füßen zwei spießige Pantoffeln. Das kann nicht gut gehen. »Ich möchte auf dem Mond sein«, sagt er, und prompt zitiert das Klavier das Kinderlied »Au claire de la lune«, ein Liedtext, der sich für erwachsene Franzosen mit nicht ganz jugendfreien Assoziationen verbindet. Diese Melodie ertönt in einer chromatisch zusammengequetschten Version, der Sonatinenbass der linken Hand wandert derweil in die Tiefe  14 . Der Flirt war vergeblich  15 , wie wir schon im Kapitel »Vouz riez?« gesehen haben .


Les courses

Der Doppler-Effekt ist ein akustisches Phänomen, das wir etwa hören, wenn ein Feuerwehrauto vorbei rast. Die Tonhöhe des Martinshorns sinkt in einem Glissando hinab – das tönt ein kläglich und passt nicht zum rasanten Tempo des Fahrzeugs. In seinem Klavierstück über das Pferderennen hat Satie den Doppler-Effekt auskomponiert. Das Stück steht in dorischem Modus auf e  16 . Doch an der Stelle, wo die schnelleren Pferde mit einem Sechzehntellauf aufwärts die langsameren abhängen, sackt die Skala plötzlich ab. Statt der erwarteten »harten« Kreuztonart mit fis und cis hören wir eine »weiche« B-Tonart mit b und es, eine kleine Eintrübung, ein Wermutstropfen für die Sieger  17  . Am Schluss zitiert das Klavier für einen Moment die Marseillaise  18 . »Die Verlierer: spitze Nasen und hängende Ohren«, so Saties Kommentartext. Im nationalistisch aufgeheizten Klima unmittelbar vor dem Krieg – das Stück wurde im März 1914 komponiert – war das ein Affront. Das Marseillaise-Zitat wird vom Hörer allerdings erst wahrgenommen, wenn das Stück zu Ende ist. Satie verhält sich wie ein versierter Kabarettist: Je schärfer die Pointe, desto beiläufiger wird sie gesetzt.


La balançoire

Die linke Hand schaukelt zwischen einem großen E und einem eingestrichenen e. Durch das ganze Stück pendelt sie in einem Abstand von zwei Oktaven hin und her. Für den Pianisten ist es nicht schwer, in diesem langsamen Tempo die Töne sicher zu treffen. Heikel ist jedoch der Anschlag: Weder darf ein Ton zu laut ertönen, noch wegen zu geringem Tastendruck stumm bleiben. Eine Gratwanderung, die neben Fingerspitzengefühl auch starke Nerven erfordert. Übrigens spielt es dabei kaum eine Rolle, ob es sich beim Spieler um einen Anfänger oder einen Virtuosen handelt.

Es ist mein Herz, das schaukelt. Ihm ist nicht schwindlig. Wie klein seine Füße sind. Wird es je in meine Brust zurückkehren?


Den gesamten Zyklus können Sie auf meiner Webpage hören.

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