Wie viele andere glaubte auch ich, die Musik von Erik Satie entdeckt zu haben, nicht als erster Mensch überhaupt, aber doch ganz für mich. Ich war neun Jahre alt, als ich an einem Orgelabend von Gerd Zacher die Douze petits chorals hörte. Drei Jahre später beschaffte ich mir das Oratorium Socrate, damals die einzige verfügbare Schallplatte von Satie. Ich war von der Magie dieser Klänge gefesselt, doch zugleich begriff ich, dass diese Musik bei sich bleibt und ich als Hörer bei mir.
Ein Kind spürt instinktiv, wenn es manipuliert wird, die meisten Erwachsenen versuchen das ja die ganze Zeit. Diese Musik tat es nicht, und so nannte ich diese Musik, ganz im Jargon der 1970-Jahre, »antiautoritär«. Da ich von Saties Musik begeistert war, meinte ich, sie gegen ihre Feinde verteidigen zu müssen, und von denen gab es einige, zum Beispiel meine Klavierlehrerin. Nach einem flüchtigen Blick in die Noten der Gnossiennnes befand sie, dass sie mit »Orientalismus« nichts anfangen könne. Auch mein Großvater, der angesehene Schweizer Pianist Walter Frey, bezeichnete Socrate wegen der Monotonie, die er darin hörte, in einem leicht anzüglichen Wortspiel als »Satismus gegenüber den Zuhörern«. Ich war damals zwölf Jahre alt, ich fand Monotonie spannend und das Bedürfnis nach Unterhaltung reaktionär.
Meine Beziehung zu Erik Saties Musik ist in vielem gleich geblieben und doch ganz anders geworden. Heute denke ich, dass Saties Kompositionen von niemandem verteidigt werden müssen. Sie sind viel zu seltsam, als dass man sich mit ihnen identifizieren könnte. Jedes Bemühen, Satie als Kronzeugen für irgendeinen Kampf zu mobilisieren, verharmlost sein Werk. Natürlich war die Uraufführung seines Balletts Parade 1917 eine Ohrfeige an die kriegsbegeisterte französische Bourgeoisie. Aber diese Ohrfeige saß nur darum, weil in dem Stück nicht die geringste antimilitaristische Absicht zu erkennen ist.
Saties Kompositionen sind kein Gegengift, gegen was auch immer. Sie stehen im Austausch mit Werken anderer musikalischer Erfinder wie Debussy, Ravel und Stravinsky, mit denen Satie persönlich bekannt war, aber auch mit Schönberg und Skrjabin, von denen er kaum Notiz nahm. Ich empfinde den Solitär Satie als Teil einer Gemeinschaft von Solitären. Dies macht die Relevanz seiner Musik nur noch größer.
Auszug aus dem Kapitel SPIEGELUNGEN